Zwischen Gdingen und Danzig
Fotografie als wissenschaftliche Methode der Forschung
Dieser Fotoband reflektiert die öffentlichen Räume einer Stadt.
Obwohl die Bilder als Werkgruppe entstanden sind, steht jedes Foto als einmalige, selbstständige Komposition und spricht für sich selbst. Jedes Bild ist somit eine unveränderliche Ganzheit, nicht nur Abbild einer jeweiligen Situation, sondern Ausdruck seiner ihm inhärenten objektiven und subjektiven Begleitumstände. Bild und Aura ermöglichen es dem Betrachter, einen Ort zu erfahren und zu reflektieren. Die Aura wird dem Bild während seines Entstehens eingeschrieben und ist somit auch zu einem späteren Zeitpunkt erfahrbar.
Fotografieren heißt, sich das fotografierte Objekt anzueignen, und dieser Akt braucht entsprechend Zeit – umso mehr, je anspruchsvoller diese Aneignung ist. Aneignung bedeutet, sich selbst in eine bestimmte Beziehung zur Welt zu setzen und die eigene Erkenntnis zum Ausdruck zu bringen. Unvoreingenommen, ohne Vorurteile oder Erwartungen.
Jeder Ort besitzt eine Aura und soll ernsthaft und respektvoll wahrgenommen werden. Kriterien wie Ästhetik oder Schönheit eines Ortes spielen in der hier gewählten Form der Annäherung an das zu Untersuchende keine Rolle.
Die zentrale Frage, die diese Arbeit begleitet, lautet: Welche Verhältnisse strukturieren den öffentlichen Raum architektonisch?
Das Alltägliche inszeniert den Raum und ist immer folgerichtig in dem ihm eigenen Sinn des Wirklichen. Ein öffentlicher Raum ist nicht objektiv fassbar, er kann auf verschiedene Arten wahrgenommen und entsprechend nur subjektiv dargestellt werden.
In der vorliegenden bildkünstlerischen Auseinandersetzung geht es vor allem um die Reflexion der an der Architektur ablesbaren gesellschaftlichen Verhältnisse. Es geht nicht nur um das Dargestellte per se, sondern um das Problem der Darstellung der Öffentlichkeit eines Ortes.
Die Untersuchung nimmt die unterschiedlichen Erscheinungsformen des städtischen Raumes als Ausgangspunkt: Sie reflektiert die Wahrnehmungsarten der Betrachtenden und analysiert die Wahrnehmungsgegenstände nach subjektiven Kriterien; dabei nimmt die gewählte Technik eine vorrangige Rolle ein. Die Technik ist Quelle dieses Reflektierens und gleichzeitig Methode der wissenschaftlichen Erforschung.
Die Fotografie kann das Erscheinungsbild der Vergangenheit dank ihrer Unbestechlichkeit in der Gegenwart zutage treten lassen. Zudem kann sie die Umstände der Wahrnehmung des Darzustellenden – also die Reflexion über den Gegenstand der Betrachtung – in der gebotenen Differenzierung wiedergeben, indem auch philosophische, ästhetische, wissenschaftliche und gesellschaftliche Kontexte in den Blick einbezogen werden – in jedem einzelnen Bild.
Die Fortbewegung im öffentlichen Raum in Stadtgebieten, entlang von Grenzlinien und Rändern wie Straßen, Eisenbahngleisen (bzw. Autobahnen) und Ufern (sowohl an Flüssen und am Meer), definieren das Bild einer Stadt und prägen im Allgemeinen unsere Wahrnehmung eines jeweiligen Ortes.
Diese Grenzlinien sind Linearelemente, die in dieser Sichtweise nicht als Begrenzung zwischen Gebieten, sondern als Bewegungslinien dienen. Sie haben keine abtrennenden Eigenschaften, sondern im Gegenteil einen Richtungscharakter. Sie sind Wege durch den öffentlichen Raum und stellen damit eine typische Wahrnehmungssituation für jeden Betrachter dar.
Für eine derartige Untersuchung ist eine Begleiterin nötig, in diesem Fall eine Plattenkamera, mit jeweils zwei Kassetten zu 8×10 Inches. Der Kameratyp ist bewusst gewählt, denn für die Arbeit entscheidend ist die Wechselwirkung zwischen der Fotografin und der von ihr genutzten Technik. Meine Vorliebe für die großformatige Fotografie liegt in der Arbeit mit der Kamera und ihrer besonderen Qualität: Infolge der zeitintensiven und manuell aufwändigen Handhabung befinde ich mich mit dieser Kamera immer in einer angeregten Auseinandersetzung und mit ihr auf gleichwertiger Ebene. Denn es geht es nicht nur um das Dargestellte, sondern um den Prozess des Aneignens und schließlich des Darstellens des im eigentlichen Sinn geistig und körperlich Erarbeiteten. Aus dieser regelrecht ganzheitlichen Annäherung – eine körperliche Anstrengung und geistige Auseinandersetzung im Dunkel unter dem Tuch der Plattenkamera – resultiert für mich die Betrachtung einer Stadt, entstehen innere Erkenntnisse und Bewusstseinserweiterungen.
Architektur teilt sich erst in der unmittelbaren Anschauung mit, wobei die jeweilige Optik der Kamera ein präzisierendes Hilfsmittel darstellt. Aus der Optik dieser speziellen Kamera – durch das Tuch abgeschiedenen von der Welt, mit einem Ausschnitt derselben, ohne Distanz zum Auge und zugleich verfremdet in seiner Überkopfstellung – erhält das Betrachten und Darstellen der Welt eine physische Präsenz. Die explizit mechanische Handhabung der Kamera, das Schneiden der Negative für die Kassetten sowie das Einsetzen und Belichten derselben mit dem ausgewählten Ausschnitt verstärken diese Körperlichkeit zusätzlich.
Weil Fotografien tatsächlich eingefangene Erfahrungen sind, ist diese Kamera das ideale Hilfsmittel, wenn unser Bewusstsein sich etwas aneignen will. Aus dieser Art der fotografischen Aneignung wird unterm Tuch jedes Bild zur ganzen Welt und vermittelt uns damit das Gefühl, wir könnten die ganze Welt unauslöschlich in unserem Kopf speichern.
In dieser Reflexion, in dieser Annäherung an und Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum liegt die besondere Bedeutung meiner Arbeit: weil der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist, voller Forscherdrang und Lust am Erleben, an Leistung und physischer Verausgabung, mit dem Gefühl, als Erster etwas zu vollbringen. Mehr noch: Die körperliche Anstrengung ermöglicht auch, eine Last hinter sich zu lassen, sie befreit und lässt mich in der Verschmelzung mit der Stadt und der Natur, mit jedem Bild meiner Forschungsreise, mir selbst ein Stück näherkommen.
Ewa Maria Wolanska
Entlang des Ufers
Entlang der Strasse
Entlang der Eisenbahn
Entlang der Autobahn
Publikation. SEKAI MAGAZIN. March 2014
© Ewa Maria Wolanska