Präsenz. Architektonische Landschaften Fotografie von Ewa Maria Wolańska Museum im Schloss Ribbeck
29. März 2015
Rede zur Eröffnung der Ausstellung von Herr Dr. Ulrich Wanke
Sehr verehrte Damen und Herren, Liebe Frau Dr. Götze, Geschäftsführerin der Schloss Ribbeck GmbH, Lieber Kollege Kämmerling, Geschäftsführer der Kulturstiftung Havelland, ich begrüße Sie – und besonders natürlich Frau Dr. Claus und Frau Wolanska, die die Fotoausstellung, die hier heute zu eröffnen ist, gestaltet haben.
Eigentlich wollte hier Herr Goulbier, der Baubeigeordnete des Landkreis Havelland einige Worte sprechen, doch da er erkrankt ist, stehe ich nun hier. Mein Name ist Wanke, ich bin zuständig für die Denkmale des Landkreises und das Museum im Schloss Ribbeck.
“Wenn ich nur eine Leica oder Pentax hätte, könnte ich auch großartige Bilder machen”.
Diesem oft zu hörenden Ausruf erteilte der bekannte Fotograf Andreas Feininger 1993 eine Absage. Technischer Fortschrittglaube allein sei ein Irrglaube, der behutsame Einsatz von Fototechnik dagegen unverzichtbar, “um das Potenzial sowohl des Motivs als auch des Bi ldes herauszubringen“[1].
Mit einer Ausstellung zur professionellen Architektur-und Landschaftsfotografie setzt das Museum im Schloss Ribbeck seine Reihe von Veranstaltungen zu Themen von regionalem Bezug, zur Malerei, Plastik und Baugeschichte fort. Mit dem Jugend-Wettbewerb „Zoom auf Fontane“ hatte der Landkreis Havelland bereits vor einigen Jahren jugendlichen Künstlern eine Plattform für ihre ersten fotografischen Versuche geboten, die auf beachtliche Resonanz gestoßen war. Jetzt nehmen wir uns der “Architektonischen Landschaften” an, d.h. Arbeiten in Farbe mit Motiven aus dem Havelland und Werken in schwarz-weiß mit Stadtansichten.
Und so freue ich mich, Frau Dr. Claus als Kuratorin und Frau Wolanska als Fotografin dieser Ausstellung begrüßen zu können. Beide kommen von der renommierten Eidgenössischen Technische Hochschule Zürich, dem Institut für Geschichte und Theorie der Architektur. Mit ihnen sind auch erstmalig auswärtige Gäste bei uns im Museum. Beide haben neben den Fotografien einen Filmessay und ein hier ausliegendes handout mitgebracht.
– Willkommen auf Schloss Ribbeck!-
Nach den Vorankündigungen, die ich von Ihnen erhielt, dürften Sie mit Feiningers oben angeführter Einstellung übereinstimmen. Mit der Plattenkamera führen sie zeitlich sogar noch etwas weiter zurück: In die fotografische Welt eines Waldemar Titzenthalers, der mit seiner gewaltigen Plattenkamera das Berlin Kaiser Wilhelms II. dokumentierte. Oder aber auf in die seines Zeitgenossen Hermann Ventzke, des hier bekannteren Lichtbildners Rathenows und der Mark Brandenburg.
“Architektonische Landschaften“, also Harmonien und Interdependenzen zwischen dem Gebauten und dem Gewachsenen, sind unter dem Stichwort “Kulturlandschaft” auch für unsere Verwaltungsbehörde ein Thema. Das dürfte für die Kulturstiftung Havelland und Landrat Dr. Schröder einer der Gründe gewesen sein, das Ausstellungsvorhaben zu fördern. Diese Förderobjekte sollen nämlich regional und überregional herausragende Bedeutung haben, nachhaltig sein und Wirkung im Landkreis entfalten.
Der Landkreis Havelland kann zwischen der Elbe und Spandau aufgrund naturräumlicher und historischer Kriterien in unterschiedliche regional abgrenzbare Kulturlandschaften gegliedert werden. Etwa im Naturpark “Westhavelland”, wo eine solche durch den Erhalt der ökologischen Wertigkeit und einen naturverträglichen Tourismus befördert werden soll. Das Landschaftsbild störende, doch unvermeidliche bauliche Anlagen sollen dabei dort auf festgelegte Gebiete beschränkt sein. Insofern ließe sich vielleicht folgern, dass die Aura dieser außergewöhnlichen Fotokunstwerke auch aus der Kulturlandschaft hervorgeht.
Wenn Sie den Fotografien eine Aura konzedieren, bejahen Sie aber auch deren eigenständigen Kunstcharakter. Was heute lange schon anerkannt ist, war in den 1930er Jahren, den Tagen Walter Benjamins, umstritten. Als Benjamin in den 1930er Jahren die Aura des Kunstwerkes[2], z. B. die Schauspielkunst oder die Malerei, unter anderem mit den Merkmalen “Echtheit“ und “Einmaligkeit“ definierte, sah er die Fotografie und den Film durch die ihnen innewohnenden Möglichkeiten der Massenreproduktion als Gefahr für die Kunst; verantwortlich für den “Verfall der Aura“. Die Massenreproduktion verändert ihm zufolge die soziale Funktion des Kunstwerkes. Denn es entstehe eine „kollektive Ästhetik“, vielmehr Menschen können die Kunst wahrnehmen. – Das führe zu einer gesellschaftlichen Emanzipation, berge aber auch die Gefahr der politischen Vereinnahmung – wie zeitgenössisch das Aufkommen des Faschismus erweise. – Wer jemals einen Blick auf Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ werfen konnte, sieht das bestätigt. – Die Fotografie wäre demnach seit ihrer Erhebung zu einer Kunst durch sich selbst gefährdet.
Wenn sie, liebe Frau Wolanska, in einem Zeitalter der milliardenfachen Smartphonefotografie mit einer archaischen Technik unterwegs sind, wie sie eindrucksvoll in Ihrem Filmessay geschildert wird, hat es fast den Anschein, als wollten sie diesem Verfall der Aura begegnen.
Zurück zur Plattenkamera, ihrem Einsatz in der Natur und dem Vorrat an Bildmaterial. Damit auch – wie Sie es sagen – zu “der körperlich anstrengenden Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Abzubildenden“. Aus der Autobiografie von Ansel Adams, in den 1930er Jahren Begründer der Fotografie als eigenständiger Kunstform, der „ straight fotography“ also der „reinen Fotografie“[3] und Schöpfer des Zonensystems liegt ein Bericht über eine Fotoexpedition in einen kalifornischen Nationalpark vor:
“Edward war noch nie zuvor in einer so grandiosen B ergwelt gewesen. Doch schon bald fing er an, Bilder zu sehen und Auf nahmen zu machen. Er belichtete viele 8×10 inch-Negative und verbrauc hte seinen Vorrat an Planfilmen. Doch ich hatte noch 8×10 inch-Planfilm und einen Wechselsack. Man braucht ein wenig Übung, um Kassetten in einem Wechselsack zu erst zu entladen und dann neu mit Planfilm zu bestücken. Wir stellten das kleine Zelt auf. Während die Dämmerung heraufzog, bekam enunsere Moskitos scharenweise Verstärkung Als es ausreichend dunkel geworden war, krochen wir ins Zelt. Mein Sack war für 4×5 Inch-Kassetten bemessen, die 8×10 Inch-Kassetten waren darin schwer zu handhaben, doch es gelang. Edward, der fürchtete, dass doch etwas Licht eindringen könnte, hielt die ganz Zeit einen dunklen Pullover über den Sack und seine Freundin wedelte hinter mir tapfer mit einem Halstuch, was die mörderischen Moskitos jedoch kaum daran hinderte, ihren Durst an uns zu stillen.”[4]
Wir, liebe Frau Wolanska, wissen noch nicht, ob Sie in dem für seine Bergwelt ja bekannten Havelland auch auf Moskitos gestoßen sind. Gleichwohl, die Wahl ihrer Motive und Perspektiven sowie die Erläuterungen durch das Filmessay, lassen erahnen, dass Ihre Einbindung von Architektur in die Landschaft nicht nur “künstlerische Reflexion” sondern auch körperliche Arbeit war. – Wir sind gespannt.
Doch bevor diese Ausstellung eröffnet sei, gebe ich das Wort weiter an Frau Dr. Claus.
Ulrich Wanke
- Andreas Feininger, Eine Philosophie der Fotografie, New York 1993, in: Andreas Feininger. That’s Photography, – Ausstellungskatalog, hg. v. Thomas. Buchsteiner und Otto Letze, Tübingen 2004, S. 27.
- Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1936.
- “Als reine Photographie gilt, was weder technisch, gestalterisch noch gedanklich Anleihen bei einer anderen Kunstform nimmt. Die Wer ke der ‚Pictoralisten’ hingegen weisen Hörigkeit gegenüber Gesetzen der Kunst auf, die der Malerei und graphischen Darstellung verbunden sind” (Manifest der Gruppe f/64, 1932).
- Ansel Adams, Autobiographie, München 1987 (EA 1985), S. 220f.
Rede zur Eröffnung der Ausstellung von Frau Dr. Sylvia Claus
Sehr geehrter Herr Beigeordneter Goulbier, sehr geehrter Herr Kämmerling, lieber Herr Dr. Wanke, liebe Ewa, meine sehr verehrten Damen und Herren,
lassen Sie mich an diesem Ort, an dem das Werk Fontanes so gegenwärtig ist, mit einem Zitat des Schriftstellers beginnen. Fontane gilt als einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Strömung des bürgerlichen Realismus. In einem 1853 erschienenen Text fragte er denn auch: Was verstehen wir unter Realismus? und antwortet unter anderem: „Der Realismus will nicht die blosse Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloss Handgreifliche, er will das Wahre.“[1]
Die Fotografie gilt seit ihrer Erfindung als in höchstem Masse realistisch. Sie gilt als Technik, die die sichtbare Welt wahrheitsgetreu wiedergibt. Dass es eine höhere Wahrheit als die des blossen Abbildes gibt, eine Wahrheit in Fontanes Sinne also, oder -um bei der Visualität der Fotografie zu bleiben- ein Sehen über das Schauen hinaus, eine Erkenntnis durch Sehen, das zeigen uns auch die Fotografien von Ewa Wolańska. Sie zeigen es, in dem in ihnen der Prozess des Abbildens, das Fotografieren also, ebenso zum Thema gemacht ist wie das dargestellte Motiv selbst.
Fangen wir mit dem Sujet an: Ewa Maria Wolańska ist Architektin und Fotografin. Das schlägt sich in ihren Aufnahmen nieder. Stets sind Bauten zu sehen: Gehöfte, Kirchen, Herrenhäuser in Pessin, Paretz, Klessen, Nauen, Dallwitz-Döberitz, Ribbeck, alles Aufnahmen, die sie im Flur sehen können, aber auch Brücken, Industriebauten, Hafenanlagen, Museen, Wohn- und Geschäftshäuser wie hier in den Ausstellungsräumen bei den Aufnahmen von Berlin oder Danzig. Doch selbst wenn es sich um Schlüsselwerke der europäischen Architektur handelt wie bei den Bauten Andrea Palladios in Maser im Veneto werden sie nicht als Architekturikonen dargestellt, sondern sie erscheinen in ihrem landschaftlichen oder städtischen Kontext, im Hintergrund, in charmanter Beiläufigkeit. Ewa Wolańskas Aufnahmen zeigen Gebautes, in dem sie es entrücken. Das in seiner mathematisch-geometrischen Ordnung gut Erfassbare, die Architektur, wird in das Unermessliche gestellt, in die Weite des Flusses, der Wiese, der Brache. Doch erwartet der Betrachter bei einer Architekturfotografie die Architektur nicht im Vordergrund? Diese Erwartung erfüllt Ewa Wolańska bewusst nicht.
Besonders deutlich wird das hier im ersten Raum, etwa bei den Aufnahmen von Zürich West, wo derzeit ein ehemaliges Industrieareal an der Peripherie der Innenstadt in ein Wohn- und Geschäftshausquartier umgewandelt wird. Nur in diesem Quartier, entlang der Gleisanlagen der Bahn, dürfen nach einer langen, höchst emotional geführten Diskussion endlich auch in Zürich Hochhäuser errichtet werden. Die Entwürfe stammen allesamt von auch international renommierten Schweizer Architekten. Der Primetower, Sinnbild dieser neuen Entwicklung, stammt von Gigon Guyer, der Mobimo-Tower von Roger Diener und das sogenannte Zoelly-Hochhaus von Meili Peters. Doch die Arbeit von Ewa Wolańska räumt diesen Hochhäusern den ihnen architekturhistorisch vermeintlich zustehenden Platz eben nicht ein. Den Primetower sieht man zwar gerade noch im Hintergrund, aber dass Mobimo-Tower und Zoelly-Hochhaus Wolkenkratzer sind -zumindest für Schweizer Verhältnisse- lässt die Aufnahme nur vermuten, denn sie sind oben angeschnitten. Nicht das einzelne Bauwerk, nicht die Signifikanz der Architektur interessiert Ewa Wolańska, sondern der städtische Lebensraum in diesem städtebaulich-architektonischen Gebilde. Die Fotografin zeigt Zürich West daher aus der Fussgängerperspektive. Die Kamera befindet sich also in Augenhöhe des auf der Strasse gehenden Passanten. Allerdings ist die Kamera fixiert, sie kann –anders als ein normaler Fussgänger– weder den Kopf heben, noch zur Seite drehen. Ewa Wolańska schafft trotzdem einen Rundumblick, in dem sie die Kamera an verschiedenen Orten positioniert und die Aufnahmen zu einem Panorama montiert.
Im Zusammenspiel mit den im gleichen Raum präsentierten Arbeiten aus Ribbeck und San Francisco gelingt zudem eine Art Zeitreise städtischer Kultivierung. Sie reicht von Scheunen resp. Ställen und der alten Gutsbrennerei in Ribbeck über das im Entstehen begriffene städtische Grossprojekt in Zürich West bis zu einer Strassenkreuzung in San Francisco, dem grössten und wohl auffallendsten Objekt hier im Raum. Bei ihm übernimmt die Strasse die Rolle, die in den anderen Aufnahmen (man möchte fast sagen: noch) der Natur bzw. im Falle Zürichs der Baustellenbrache zugewiesen ist. Paradoxerweise ist es –trotz der Verdrängung der Natur- der lebendigste Ort. Das springt umso mehr ins Auge, als es die einzige Aufnahme der Ausstellung ist, auf der Menschen zu sehen sind. Die auch in der Grösse abgestufte Abfolge aus Gutsdorf, städtischer Grossbaustelle und Stadtplatz lässt sich aber auch auf einer weiteren Ebene lesen, nämlich zirkulär, als Kreislauf aus Wachsen und Vergehen, aus Gestaltwerdung und Verfall. Ewa Wolańska zeigt uns Architektur und Stadt als einen Prozess gleichsam natürlichen Daseins. Architektur ist so bei Ewa Wolańska in doppeltem Sinne als Landschaft zu lesen ist: Sie ist Teil der Landschaft und sie wird selbst als Landschaft begriffen – sowohl in formaler als auch in organisch-biologischer Hinsicht.
Ewa Wolańska zeigt aber auch, dass Stadt mehr ist als eine Ansammlung von Bauten. Der Zwischenraum zwischen den Gebäuden ist mindestens so wichtig wie die Architektur selbst,. Das haben wir am Beispiel Zürichs und San Franciscos gesehen. Und als Gegenbild zu Geschäftigkeit und Betriebsamkeit, die wir üblicherweise mit Stadt assoziieren, fungieren bei Ewa Wolańska nicht zuletzt der Fluss oder die einsame Strasse, die sie als Orte der Ruhe und Kontemplation stets im Vordergrund inszeniert.
Die amerikanische Essayistin Susan Sontag betont in ihren berühmten Schriften über die Fotografie, dass „die formalen Qualitäten des Stils – zentrales Thema in der Malerei- in der Fotografie höchstens von sekundärer Bedeutung“ seien, „während bei [der Fotografie] in jedem Fall das Was, also der Gegenstand, im Vordergrund“ stehe[2]. Das mag richtig sein, wenn die Fotografie von der Malerei unterschieden werden soll. Pauschal für die Fotografie hingegen gilt das nicht und erst recht nicht, wenn wir uns das Werk Ewa Wolańskas im Besonderen anschauen. Der Gegenstand ist bei ihr wichtig, mindestens ebenso relevant ist aber ihr Stil, der nicht zuletzt aus der Art und Weise resultiert, das Bild herzustellen. Ewa Wolańskas fotografiert analog. Sie arbeitet mit einer altenPlattenkamera. Davon erzählt der Rand, den das Negativ auf dem Abzug hinterlässt und der bewusst nicht weg retouschiert ist.
Er erinnert an die Geschichte der Fotografie. Joseph Nicéphore Niépce hat 1826 mit einer Camera obscura und einer mit Asphalt beschichteten polierten Zinnplatte einen Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers festgehalten und damit die erste fotografische Aufnahme geschaffen. Die Belichtungszeit lag bei etwa 8 Stunden. Nicht ohne Grund beginnt Ewa ihren Film, der nebenan vorgeführt wird, mit einer Aufnahme des Ortes, an dem Niépce 1826 gearbeitet hat. In jeder ihrer Bilder schwingt diese Tradition mit. Just zu der Zeit, da Fontane seine realistischen Romane schrieb, erlebte auch die Fotografie eine erste Blütezeit. Seit den 1850/60er Jahren erlaubten sogenannte Reise-Dunkelräume Aufnahmen ausserhalb eines befestigten Raumes.
Letztlich mit einem solchen Reise-Dunkelraum, wenn auch nicht ganz so alt, arbeitet auch Ewa Wolańska. Das spiegelt sich in ihren Aufnahmen. Das Gerät selbst ist schwer. Die grossformatigen Platten sind unhandlich. Es können jeweils nur wenige davon transportiert werden. Gegenstand, Ausschnitt und Zeitpunkt der Aufnahme müssen im Vorfeld bedacht und komponiert werden. Aus der auch körperlich anstrengenden Arbeit und der Auseinandersetzung mit dem Abzubildenden im Dunkeln, unter dem Tuch der Plattenkamera, resultiert eine ganz eigene Wahrnehmung.
Auch wenn Walter Benjamin der Fotografie als mechanisch reproduziertem Objekt Einmaligkeit, Einzigkeit, Präsenz, sprich eine künstlerische Aura absprach und erst Susan Sontag zumindest alten Fotografien eine solche dann auf Grund ihres Alters doch wieder attestierte, möchte ich behaupten, dass auch Ewa Wolańskas Bilder eine Aura haben, die aus dieser intensiven, physischen und intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Motiv und der Technik resultiert. Ewa Wolańska malt gewissermassen mit der Plattenkamera.
Das schlägt sich auch stilistisch nieder. Aus dem Aufnahmeverfahren resultiert eine hohe, fast veristische Tiefenschärfe. Sie gestattet die dem menschlichen Auge ungewohnte Erfahrung gleichzeitigen, detailliertesten Sehens in der Nähe und in der Ferne. Deshalb befindet sich die Architektur auf Ewa Wolańskas Fotos zwar im Hintergrund, ist dem Blickaber nicht entzogen. Vielmehr hebt sie die Hierarchie zwischen Vorderund Hintergrund ebenso auf wie die zwischen Architektur und Umgebung.
Ein malerisches Prinzip ist auch die Gruppierung ihrer Bilder zu Panoramen. Sie verschleift weder die Ränder der einzelnen Bilder, noch glättet sie verschiedene Perspektiven. Auf diese Weise entstehen geradezu prismatische Darstellungen, die an die Stadträume der Impressionisten – mit der Strasse im Vordergrund– ebenso denken lassen wie an kubistische Stadtansichten. Die Ränder bilden Zäsuren, die den Betrachter innehalten lassen, Denkräume oder Reflexionszonen, in denen der Entstehungsprozess des Bildes evident wird. Die Technik, mit der die Fotografin arbeitet, wird konstitutiv für den Inhalt. Über die auf den Bildern
gezeigten Orte und Gegenden hinaus thematisiert Ewa Wolańska die sinnliche Wahrnehmung und individuelle ästhetische Erfahrung des Kunstwerkes und seiner Produktion. Sie thematisiert seine Präsenz und schafft „wahre“ respektive „realistische“ Aufnahmen im besten Sinne.
Sylvia Claus
- Theodor Fontane, Was verstehen wir unter Realismus? (1853), in: Bürgerlicher Realismus, hg. v. Andreas Huyssen, Stuttgart: Reclam, 1974 (Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung; 11), S. 55f., Zitat S. 55.
- Susan Sontag, Der Heroismus des Sehens, in: Dies., Über Fotografie, Frankfurt/Main 2002 (EA 1977), S. 81-110, Zitat S. 91f.
© Ewa Maria Wolanska